von Dr. Benjamin Schraven
200 Millionen Menschen, die aufgrund des Klimawandels nach Europa fliehen könnten. In Medien und Politik taucht diese Zahl regelmäßig auf. Muss der globale Norden in absehbarer Zeit tatsächlich mit einem Ansturm von „Klimamigranten“ rechnen? Erkenntnisse aus der Forschung.

Apokalypse „Klimaflucht“?

Migration gehört ohne Zweifel zu den großen Themen der Gegenwart. 2015 kamen über eine Million Menschen vorwiegend aus Syrien, dem Irak und Afghanistan nach Europa [1] – das Jahr gilt gemeinhin als Höhepunkt der sogenannten europäischen Flüchtlingskrise. Flüchtlinge, Integration und Fluchtursachenbekämpfung sind seitdem die Begriffe, die viele öffentliche und politische Diskussionen in Deutschland und Europa bestimmen. 2015 war auch das Jahr, in dem das Pariser Klimaabkommenverabschiedet wurde. Und gerade die möglichen Auswirkungen des Klimawandels in Bezug auf Migration lassen viele Beobachter_innen sorgenvoll in die Zukunft blicken. Nicht wenige stellen sich die Frage, ob die Folgen der globalen Erwärmung – vom Anstieg des Meeresspiegels bis hin zu schwerwiegenden Dürren – nicht schon in wenigen Jahren oder Jahrzehnten eine ganz neue Flüchtlingskrise von bisher ungeahnter Dimension für Europa auslösen könnten. Der Gründer des alternativen Nobelpreises, Jakob von Uexküll, bringt diese Sorge wie folgt auf den Punkt: „Wenn Europa nicht mit einer Million Kriegsflüchtlingen […] klarkommt, wie soll es mit 200 Millionen Klimaflüchtlingen […] umgehen?“[2]
Müssen wir schon in absehbarer Zeit mit einem riesigen Ansturm von „Klimaflüchtlingen“ rechnen? Was weiß die Forschung eigentlich über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration? Und auf welchen Quellen beruhen die Erkenntnisse in diesem Bereich?

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Umweltmigration

Mit wenigen Ausnahmen [3] spielte der Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und menschlicher Mobilität in der Migrationsforschung bzw. der Wissenschaft insgesamt bis Mitte der 1980er Jahre kaum eine Rolle. Das änderte sich erst, als das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) 1985 eine Definition des Begriffs „Umweltflüchtling“ veröffentliche. Gemäß dieser Definition seien darunter Menschen zu verstehen, die – für einen gewissen Zeitraum oder dauerhaft – ihre angestammte Heimstätte verlassen müssen, weil Umweltereignisse dort ihre Existenz bedrohen.[4]Seit jeher wurde diese Definition von vielen Seiten als zu vage abgelehnt. Trotzdem führte die Veröffentlichung dazu, dass sich eine intensive wissenschaftliche Diskussion zum Thema entwickelte.
Bei dieser aufkeimenden Diskussion in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren ließen sich rasch zwei ziemlich unterschiedliche Fraktionen in der wissenschaftlichen Gemeinde erkennen. Auf der einen Seite stehen die sogenannten „Alarmisten“, bei denen es sich hauptsächlich um Naturwissenschaftler_innen handelt. Der Ausgangspunkt ihrer Analysen zum Zusammenhang zwischen Umwelt und Migration ist die Prämisse, dass ökologische Veränderungen – und insbesondere die Folgen der globalen Erwärmung (siehe Kasten) – eine zunehmend dominante Rolle bei Migrationsentscheidungen spielen werden. Weit verbreitet ist in dieser Gruppe von Wissenschaftler_innen die Annahme, dass Umweltveränderungen menschliche Lebensräume zunehmend unbewohnbar machen und Menschen dadurch in die Flucht getrieben würden. Der bekannteste Vertreter der alarmistischen Gruppe ist Norman Myers, der bis heute ein angesehener Experte im Bereich der Biodiversitätsforschung ist. Er veröffentlichte in den 1990er Jahre eine Prognose, wonach es zur Mitte des 21. Jahrhunderts 200 Millionen „Klimaflüchtlinge“ geben werde.[5] Diese Prognose gilt zwar schon längst nicht mehr als haltbar und methodisch sehr fragwürdig; allerdings erwies sie sich als äußerst langlebig. Bis zum heutigen Tage taucht sie immer wieder in Medienberichten oder Stellungnahmen von Politiker_innen zu den Folgen des Klimawandels auf.[6]
Auf der anderen Seite beteiligte sich seit den frühen 1990er Jahren eine Gruppe von Wissenschaftler_innen an der akademischen Debatte zum Thema „Umwelt- und Klimamigration“, die man schon bald als „Skeptiker“ bezeichnete.[7] Zu ihnen zählen Vertreter_innen aus der Migrationsforschung, den Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften. Ihre Sicht auf die Rolle von ökologischen Faktoren ist eine gänzlich andere als die der „Alarmistinnen“ und „Alarmisten“. Sie gehen davon aus, dass Umwelteinflüsse nur einen von mehreren Faktoren darstellen, die menschliche Migrationsentscheidungen beeinflussen. Prognosen zur zukünftigen Anzahl von „Klimaflüchtlingen“ lehnen sie ab – gerade auch wegen der Schwierigkeit, definieren zu können, wer denn überhaupt unter solch eine Kategorie fällt.
Lange Zeit fußte die wissenschaftliche Debatte zum Klima-Migrations-Nexus – also zum Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration – vor allem auf Einzelfallstudien. Dies änderte sich erst ab Mitte der 2000er Jahre, als das öffentliche Interesse am Thema wuchs und auch internationale Organisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) oder das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sich der Problematik in verstärktem Maße annahmen. Diese Situation begünstigte seitdem die Etablierung zahlreicher internationaler Forschungsprojekte und -initiativen, die den Fokus der bisherigen Forschung deutlich erweiterten. Zu diesen zählen u.a. die teilweise bereits abgeschlossenen Projekte „Environmental Change and Forced Migration Scenarios“ (EACH-FOR)[8] , „Migration and Global Environmental Change“[9], „Where the Rain Falls“[10] oder „Migration, Environment and Climate Change: Evidence from Policy“ (MECLEP)[11].
Was lässt sich über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration sagen
Zwar gibt es sicherlich noch Wissenslücken im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Migration und Klimawandel. Die Ergebnisse der oben aufgeführten Projekte und Initiativen lassen jedoch einige Rückschlüsse über das (globale) Verhältnis zwischen Klimawandel und menschlicher Mobilität zu. Diese geben eher der Position der „Skeptiker“ recht und lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Es besteht kein Automatismus zwischen ökologischem Wandel und Migration
Die erhöhte Wahrscheinlichkeit von plötzlich einsetzenden Umweltkatastrophen wie Flutwellen gehört zu den deutlichen Folgen des Klimawandels. Millionen von Menschen sind dadurch in ihrer menschlichen Sicherheit bedroht; mit anderen Worten: Es besteht Gefahr für Leib und Leben. Aber auch schleichende Folgen der globalen Erwärmung wie Veränderungen bei den tropischen Regenzeiten oder Küstenerosion wirken sich zunehmend negativ auf die Nahrungsmittelproduktion, Ernährungssicherheit und (traditionelle) Wirtschafts- und Lebensweisen vieler Menschen aus (siehe Box 1). Dennoch bleiben auch in Anbetracht dieser Umweltveränderungen menschliche Migrationsentscheidungen höchst komplex. So sind es nicht nur die genannten Folgen des klimatischen Wandels, die Menschen veranlassen, ihren Wohnort zu verlassen. Vielmehr spielen viele Faktoren eine Rolle: Wirtschaftliche (z.B. Arbeitsplatzangebote), politische (z.B. Visafreiheit) oder soziale Rahmenbedingungen (z.B. Zugang zu Netzwerken, die den Migrationsprozess unterstützen) können zur Entscheidung beitragen, ob jemand seinen Herkunftsort verlässt oder nicht. Kurz gesagt: In der Regel basieren Migrationsentscheidungen nicht nur auf einer einzigen Ursache, sondern einem Zusammenspiel unterschiedlicher Motive und Zwänge. So ist auch die Unterscheidung zwischen Flucht und freiwilliger Migration in konkreten Fällen bisweilen kaum zu treffen. Dasselbe gilt für die Unterscheidung zwischen den Folgen des Klimawandels und nicht-klimawandelbezogenen Umweltereignissen. Ob ein bestimmter Migrationsprozess nun umwelt- oder klimabedingt ist, ob man gar von einer „Klimaflucht“ sprechen sollte, ist daher äußerst schwer zu beantworten. Auch eine Ursache-Wirkung-Gleichung nach dem Motto „je mehr Dürren, desto mehr Migration“ kann nicht aufgestellt werden. Denn: Migration ist bei weitem nicht die einzige Reaktion auf bzw. Strategie der Anpassung (s.u.) an die Auswirkungen des Klimawandels; Möglichkeiten der Anpassung an veränderte Umweltbedingungen „vor Ort“ sind durchaus vielfältig. So können beispielsweise von Dürren betroffene Kleinbauern ihre landwirtschaftliche Produktion durch Wasserspeichertechnologien oder neue Anbautechniken an den Klimawandel anpassen, was ihnen einen Verbleib am Herkunftsort ermöglicht.

Betroffen von „Klimamigration“ sind vor allem arme Bevölkerungsgruppen im globalen Süden

Die Menschen, die hauptsächlich von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind – und für die Migration in diesem Kontext eine Option sein kann oder muss – sind ärmere Bevölkerungsgruppen im globalen Süden, die z.T. hochgradig von der Landwirtschaft bzw. natürlichen Ressourcen abhängig sind. Vor allem kleinbäuerliche Familien, Viehzüchterinnen und -züchter sowie Hirten oder städtische Arme sind hier zu nennen. Aufgrund ihrer bescheidenen Ressourcen- und Finanzausstattung sind sie oft gar nicht in der Lage, über größere Distanzen hinweg zu migrieren. Klimabezogene Migration findet daher vor allem landesintern oder zwischen benachbarten Ländern statt. Von einem millionenfachen Ansturm von „Klimamigrant_innen“ in Richtung Europa ist bis auf Weiteres nicht zu rechnen. Viele der betroffenen Menschen sind sogar so arm, dass sie nirgendwohin migrieren können und sie gewissermaßen an ihren Heimatorten „gefangen“ sind. In der Literatur werden sie als „trapped populations“ bezeichnet. Diese Menschen sind und werden am härtesten von den Folgen der globalen Erwärmung getroffen. Wenn vom Klimawandel betroffene Menschen aber migrieren können, dann geschieht das zumeist zeitlich begrenzt und beschränkt sich oftmals auf die Migration einzelner Haushalts- und Familienmitglieder. Ziel der Migrant_innen ist es dabei nicht selten, z.B. Ernte- oder Viehverluste zu kompensieren, indem sie Geld am Zuzugsort verdienen und einen Teil davon zurück an ihre Familien schicken. Nicht umsonst hat sich in den letzten Jahren die Frage, ob und inwieweit Migration auch eine Risikominimierungs- oder Anpassungsstrategie an den Klimawandel sein kann, zu einer der wichtigsten Fragen im Forschungsfeld „Klimamigration“ entwickelt. [12]
Zwangsmigration aufgrund des Klimawandels wird zunehmen.
Aufgrund des weiter fortschreitenden Klimawandels und vor allem auch des fortschreitenden Anstiegs des Meeresspiegels ist davon auszugehen, dass in den nächsten Jahrzehnten zahlreiche Gegenden (z.B. Teile der pazifischen Inselstaaten oder Bangladeschs) unbewohnbar werden dürften. Dort müssen sich die Menschen darauf einstellen, dauerhaft ihre Heimatorte aufzugeben und die Regierungen müssen über Umsiedlungsmaßnahmen nachdenken. Zum Ausmaß der bereits heute stattfindenden Zwangsmigration in Folge von Naturkatastrophen liegen zwar Zahlen vor. So geht das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) beispielsweise von 24,2 Millionen Menschen aus, die im Jahr 2016 aufgrund von Naturkatastrophen ihre Wohnorte verlassen mussten.[13] Doch diese Zahlen umfassen auch Migrationsbewegungen, bei denen die betroffenen Menschen bereits nach sehr kurzer Zeit an ihre Wohnorte zurückkehren. Daher sind sie – wie die Prognosen zur zukünftigen Zahl der „Klimamigrant_innen“ allgemein – mit äußerster Vorsicht zu interpretieren.

Ein weiter Weg: Von der Wissenschaft zur Politik

„Klimamigration“ ist heute kein Gegenstand rein akademischer Diskussion mehr. Die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) hat 2017 eine „Task Force on Displacement“ eingerichtet und bereits 2010 war Migration zum ersten Mal ein offizielles Thema auf der jährlich stattfindenden Weltklimakonferenz. Das Thema Migration im Kontext des Klimawandels politisch anzugehen, ist herausfordernd und sollte nicht einfach bedeuten, Migration zu unterbinden. Vielmehr muss es darum gehen, betroffenen Menschen eine Migration in Würde – ohne Angst vor Diskriminierung oder Ausbeutung – zu ermöglichen und die positiven Aspekte der Migration als Risikominimierungsstrategie zu verstärken. Daher scheint ein intensiverer Austausch zwischen Wissenschaft und Politik dringender geboten denn je.[14]

Fußnoten

1.    European Stability Initiative (ESI) (2017): The Refugee Crisis through Statistics, S. 13.
2.
Preuß, Olaf (2017): „Wie soll Europa erst mit 200 Millionen Klimaflüchtlingen aus Afrika umgehen?“. Welt.de, 15. Oktober. https://www.welt.de/regionales/hamburg/article169622057/Wie-soll-Europa-erst-mit-200-Millionen-Klimafluechtlingen-aus-Afrika-umgehen.html (Zugriff: 31.5.2018).
3.
Dazu zählt vor allem Lester Brown in den 1970er Jahren. Siehe Black, Richard (2001): Environmental Refugees: Myth or Reality? UNHCR Working Paper 34, S. 1.
4.
Im Original heißt es „Environmental Refugees are those people who have been forced to leave their traditional habitat, temporarily or permanently, because of a marked environmental disruption (natural and/or triggered by people) that jeopardized their existence and/or seriously affected the quality of their life“, El-Hinnawi, Essam (1985): Environmental Refugees. United Nations Environment Programme (UNEP). Nairobi.
5.
Myers, Norman (1997): Environmental Refugees. In: Population and Environment 19(2), S. 167-182.
6.
Siehe z.B. Naica-Loebell, Andrea (2018): Klimawandel und immer mehr Migration. Telepolis, 22. Januar. https://www.heise.de/tp/features/Klimawandel-und-immer-mehr-Migration-3946382.html?seite=all (Zugriff: 31.5.2018).
7.
Zur wissenschaftlichen Debatte zwischen „Alarmisten“ und „Skeptikern“ siehe auch: Dun, Olivia/Gemenne, François (2008): Defining ‚Environmental Migration‘. In: Forced Migration Review 31, S. 10-11.
8.
http://www.ccema-portal.org/article/read/each-for-project-publications (Zugriff: 31.5.2018).
9.
https://www.gov.uk/government/publications/migration-and-global-environmental-change-future-challenges-and-opportunities (Zugriff: 31.5.2018).
10.
Warner, Koko/Afifi, Tamer (2014): Where the Rain Falls: Evidence from 8 Countries on How Vulnerable Households Use Migration to Manage the Risk of Rainfall Variability and Food Insecurity. In: Climate and Development 6(1), S. 1-17.
11.
http://www.environmentalmigration.iom.int/migration-environment-and-climate-change-evidence-policy-meclep (Zugriff: 31.5.2018).
12.
Siehe z.B. Milan, Andrea/Schraven, Benjamin /Warner, Koko /Cascone, Noemi (2016): Migration, Risk Management and Climate Change: Evidence and Policy Responses. Berlin/Heidelberg.
13.
Siehe http://www.internal-displacement.org/global-report/grid2017/ (Zugriff: 31.5.2018).
14.
Bauer, Steffen/Schraven, Benjamin (2018): Migration als Anpassungsstrategie an den Klimawandel fördern. In: Diplomatisches Magazin 2(2), S. 34-37.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Migration und Klimawandel.
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Autor: Dr. Benjamin Schraven für bpb.de